Wer spielt denn hier - und wenn ja, wie viele?*

 

Jeder von uns hat in seinem Leben schon eine Menge Erfahrungen damit gesammelt, wie es ist, sich auszudrücken. Sei es als kleines Baby, das anfängt zu schreien, wenn es Hunger hat. Sei es als Kind, das beginnt, seinen eigenen Willen zu entwickeln und dies vielleicht in einem Wutanfall kund zu tun. Sei es als Jugendlicher, dem es plötzlich ganz egal ist, was die Eltern sagen und sich die Haare grün färben lässt.

 

Wir haben nicht nur die Erfahrung gesammelt, uns auszudrücken – wir haben vor allem auch die Erfahrung gemacht, wie andere Menschen dabei auf uns reagieren. Und diese Erfahrungen speichern wir ein Leben lang und rufen sie, meist unbewusst, wieder ab, wenn wir anfangen, künstlerisch aktiv zu werden, z.B. indem wir ein Instrument lernen. 

Und da drückt dann manchmal der Schuh: es gibt immer noch Anteile in uns, die wie ein kleines Kind sind, oder wie ein rebellierender Teenager. Auch wenn wir längst erwachsen sind: diese Wesensanteile wollen mitmachen, mitspielen, mitsingen. Die Psychologie nennt diesen Teil von uns das „Innere Kind“.

 

Dieses Kind in unserem Inneren ist auch heute noch höchst lebendig, und wenn wir unsere Aufmerksamkeit dahin lenken, dann nehmen wir es wahr: es ist manchmal wild, manchmal laut, manchmal schreit es wütend. Und manchmal ist es still und lauscht: auf eine neue Melodie, auf einen kleinen Liedtext in seinem Kopf, auf etwas, das seinem Gefühl Ausdruck verleihen kann. Es muss sich nicht bemühen, damit ihm etwas einfällt, das passiert ganz automatisch. Ganz natürlich. Von da kommt der Wunsch, uns auszudrücken, auch als Erwachsene.


Von da kommt dann aber auch der Zweifel: Kann ich das überhaupt? Darf ich so spielen? Muss ich das nicht besser machen? Müsste es nicht mehr klingen wie....?

 

Und wie bei kleinen Kindern ist vor allem eines ganz wichtig, wenn wir uns weiter entwickeln wollen: wir müssen uns SICHER fühlen. Wir müssen spüren, dass es okay ist, so zu sein. Wir müssen Fehler machen dürfen. Wir müssen auch mal „schräg“ klingen dürfen. Dann kommen auch die "kleinen", kindlichen Anteile in uns hervor und lassen uns entspannt sein. Lassen uns sogar über uns selbst hinaus wachsen.

 

Es geht beim Klavierlernen nicht nur darum, die richtigen Finger auf die richtigen Tasten zu legen oder eine stimmige Beethoven-Interpretation zu gestalten. Es geht auch immer um etwas ganz Persönliches: um diesen inneren wie äußeren Weg, der uns mit uns selbst in Berührung bringt. Damit wir reifen. Damit wir weiter gehen können. Damit unser Ausdruck stimmig, vielfältig, und vor allem eines wird: höchst persönlich.

 

 

 

 

*Der Titel für meinen Blogartikel ist vom Bestseller „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele“ von Richard David Precht inspiriert. Ich kenne den Inhalt des Buches zwar nicht, vermute aber, dass auch das Buch sich mit verschiedenen Anteilen unseres „Ichs“ beschäftigt. Wir sind eben nicht nur EIN „Ich“, sondern genau genommen ganz viele.